Über das Projekt

Diese Webseite ist ein von der Kunsthistorikerin Victoria Hohmann-Vierheller initiiertes Projekt. Es soll dabei unterstützen, Leben und Werk der Malerin & Friedensaktivistin Annot Jacobi bekannt(er) zu machen. Regelmäßig sollen neue Blogbeiträge zur künstlerischen und politischen Tätigkeit Annots sowie zu ihrem Leben allgemein veröffentlicht werden. Für Forschungsupdates kann der Newsletter abonniert werden.

Wie alles begann. Hier berichtet die Kunsthistorikerin, wie es zu der Beschäftigung mit Annot kam.

New York City, Boston, Rhode Island, überhaupt die Ostküste ein bisschen kennenlernen, auf den Spuren der Einwanderer, auch der eigenen Verwandten, Atlantik tanken, Art, Pop Art, Land Art, Minimalismus, Action Painting. Nach fast zwei Jahrzehnten mal wieder in die USA reisen, in diesem gespaltenen 2016, das einen völlig irrationalen Machtwechsel im Weißen Haus befürchten lässt. Dem Zuvorkommen auf eine Weise mit dieser Reise. Die auch eine Hochzeitsreise ist. Dazu eine Belohnung für das fast vollendete Masterstudium der Kunstgeschichte, bei dem nun der Fokus auf der Masterarbeit liegt. Mein Thema: Das Gesicht der selbständigen Frau – Annot Jacobi im Berliner Kunstbetrieb der späten Weimarer Republik bis in die Zeit des NS-Regimes. Erstgutachterin ist Dr. Meike Hoffmann, für die ich seit 2014 als Hilfswissenschaftlerin an der Forschungsstelle Entartete Kunst tätig bin, Zweitgutachterin Dr. Miriam-Esther Owesle, die als Gastdozentin mit der Seminarreihe Der weibliche Blick am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität ein Kennenlernen und Erforschen weiblicher Künstlerinnen der klassischen Moderne anbietet. Auf die Künstlerin Annot Jacobi und ihr Werk bin ich allerdings schon früher gestoßen: Online habe ich die die Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (FKW- Frauen Kunst Wissenschaft) entdeckt. Die Ausgabe Heft 2/3 vom April/Mai 1988 kreist um Frauen-Bilder im Nationalsozialismus, und ist Hannelore Paflik und Katharina Sykora zu verdanken. Wichtiger Punkt: Die Publikation enthält eine Auflistung Verfemte Künstlerinnen im Dritten Reich. Erste auf dieser Liste, da alphabetisch geordnet: Annot, Anna Ottonie Jacobi, geb. Krigar.

Insgesamt sind 54 Künstlerinnen mit rudimentär biographischen Daten aufgeführt sowie, wenn bekannt, die Anzahl beschlagnahmter Werke als entartete Kunst. Unter den Künstlerinnen sind bekannte wie Käthe Kollwitz, Paula Moderssohn-Becker, Gabriele Münter, Hannah Höch, Else Lasker-Schüler, einem interessierten Publikum bekannte wie Charlotte Berend-Corinth, Renée Sintenis, Anita Rée, Charlotte Salomon, Elfriede Lohse-Wächtler, Emy Roeder und Namen, die auch ich als Frau vom Fach googeln muss: Erna Dinklage, Grethe Jürgens, Bele Bachem, Alma del Banco, Hanna Fonk, Katrine Harries, Marie Laurencien, Ida Kerkovius, Eva Samuel etc. Ich weiß nicht mehr, warum ich direkt bei Annot hängenbleibe bzw. schließlich zu ihr zurückkomme. Da sind so viele Geschichten zu erzählen, von NS-Terror, vom Holocaust: Charlotte Salomon 1940 Deportation und Ermordung in Auschwitz, Elfriede Lohse-Wächtler 1940 Ermordung im Konzentrationslager Brandenburg an der Havel, Alma del Banco 1943 Selbstmord, Anita Rée 1933 fast alle Wandbilder in öffentlichen Gebäuden Hamburgs werden übermalt, weil sie Jüdin ist. Selbstmord. Katrine Harries 1939 Emigration nach Kapstadt zusammen mit ihrer Mutter, die Jüdin ist, Hilde Goldschmidt 1939 Emigration nach London, Hanna Fonk 1933 als „Linksintellektuelle“ verhaftet und gefoltert, Jeane Flieser 1936 – 45 Studien und Arbeitsverbot (Tochter jüdisch-christlicher Eltern). Das begonnene Studium in Berlin muß abgebrochen werden. Sie muß in der Fabrik arbeiten und erhält Heiratsverbot, Käthe Steinitz Dreißiger Jahre (sic): Emigration nach New York.[1]

Bei Annot las ich: 1916 30 Tage Gefängnis Moabit wegen Verteilung einer pazifistischen Denkschrift. 1920 Gründungsmitglied der deutschen Sektion der „Frauenliga für Frieden und Freiheit“ 1933 Weigerung, jüdische Schülerinnen aus ihrer Schule zu entlassen.[2] Dieses Wort Weigerung hat mir gefallen, mich hellhörig gemacht. Mich hat interessiert, dass Annot den Mut aufgebracht hat, sofort 1933 Widerstand zu leisten. Und damit begann auch schon die Forschungsarbeit. Ich weiß nicht mehr, ob ich es dann direkt beim ersten Googeln bei Wikipedia gelesen habe oder im Katalog zur Ausstellung Das Verborgene Museum, Dokumentation der Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen, diesem Lexikon, diesem Grundstein von Grundlagenforschung der Arbeitsgruppe der NGBK, unter der Leitung von Gisela Breitling, Evelyn Kuwertz und Renate Flagmeier – jedenfalls war das Jahr 1981 ausschlaggebend. Auf den Seiten 239/240 des Katalogs des (ehem.) Verborgenen Museum steht zu Annot: 1981 gestorben in München.[3] Diese Information überzeugte mich gänzlich, zu Annot zu forschen – denn ich bin 1981 in München geboren. Plötzlich gab es da eine Verbindung, die mich nicht mehr losließ. Später stellte ich fest, dass Annot sogar kurzzeitig in der Straße lebte, in der ich geboren wurde, sogar fast schräg gegenüber. Und dass ihre Schwester und ich den Geburtstag teilen. Gemeinsamkeiten, die meine Forschungsarbeit zur Herzensangelegenheit werden ließen.

Zurück zu besagtem Katalog. Dort ist auch zu lesen:

Als das Ehepaar Jacobi sich 1933 weigerte, jüdische Schülerinnen zu entlassen, wurde die Malschule von Annot von den Nationalsozialisten geschlossen. Annot und Rudolf Jacobi emigrierten in die USA. Wie viele andere europäische Künstler lebten sie in New York.[4]

Und:

1956 verließen sie New York und zogen zu ihrem Freund Pablo Casals nach Puerto Rico. Dort lebten und arbeiteten sie, bis sie 1967 nach Deutschland zurückkehrten und sich endgültig in München niederließen.[5]

Diese Informationen bildeten den Ausgangspunkt für meine Forschungsarbeit. Die sich maßgeblich dem Annot-Jacobi-Archiv im Archiv der Akademie der Künste Berlin verdanken sollte. Aber längst nicht nur – wie sich ebenfalls herausstellen würde. Wissenschaftliche Forschung ist oft auch ein Resultat des Zufalls. Es ist eine detektivische Spurensuche. Manchmal verliert sich eine Spur, manchmal findet sich überraschend eine Fülle von Informationen, manchmal passen plötzlich wieder zwei oder mehr Puzzleteile zusammen und das Bild ist wieder ein Stück vollständiger.

Der erste Zufall, das Jahr 1981, hatte das Thema meiner Masterarbeit also entschieden. Viele Zufälle sollten folgen. Bevor ich davon berichte, muss ich den Forschungsstand zu Annot im Jahr 2016 darlegen. Damals – und das ist erst wenige Jahre her – existierten öffentlich nur ein paar Details ihrer Biografie, die sich auf den Namen (meistens fälschlicherweise mit Anna Ottilie angegeben), Geburts- und Todesjahr, den Vermerk beschlagnahmter Werke und ihre Emigration in die USA beschränkten. Der Eintrag im Lexikon des Verborgenen Museum, war das Ausführlichste über Annot, was neben dem einzigen existierenden Katalog „Annot“ der Galerie Abercron von 1978 zu finden war. Im Archiv der Akademie der Künste entdeckte ich, dass bereits Anläufe unternommen worden waren, eine Künstlerinnenbiografie zu verfassen, aber nichts Umfassendes, nichts Chronologisches, das waren nur ein paar Seiten eines Interviews im Bereich der „biografischen Dokumente“ die Anfänge eines Interviews mit der betagten Künstlerin durch die befreundete Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Biruté Ciplijauskaité. Dieses Interviewfragment war einst als Basis für eine Biographie der Künstlerin gedacht, doch beendete Prof. Ciplijauskaité dieses Projekt, kaum begonnen, da es ihr auf Grund von Annots zähen Schilderungen wenig erfolgversprechend erschien.[6] Auch die Annot-Doku von der Regisseurin und Dokumentarfilmerin Katja Raganelli, gedreht 1976, ausgestrahlt 1977/78[7]  ist mehr ein kurzes Porträt, keine umfassende Biografie – auch wenn Annot hier sehr eindrücklich erfahrbar wird. Im Grunde fand ich also vor allen Dingen eins: Einen Berg von Informationen: Zeitungsartikeln, Fotos, Briefen, persönlichen Dokumenten – die es galt zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Als ich Im Frühjahr 2017 meinen Master abschloss, war mir nicht bekannt, wer Annots künstlerischen Nachlass betreute. Es war die Kunst- und Kulturhistorikerin Dr.H. Caroline Ebertshäuser, die schicksalshafterweise im Mai 2017 verstarb. Die Unterlagen zu Annot in ihrem Besitz fanden daraufhin ihren Weg ins Archiv der Künste. Erst 2022/2023, als ich die Forschungsarbeit erneut aufnahm, entdeckte ich darum diese Unterlagen und damit neue Puzzleteile.

Doch zurück zum Anfang. Der in einem mühsamen Zusammensetzen einzelner Informationen: Kunstkritiken, Ausstellungskataloge, Broschüren, Briefe, Postkarten, persönlicher Notizen, Abbildungen, Fotos bestand. Bis irgendwann, wie bei einem Mosaik, das man zusammensetzt, der biografische Rahmen stand. Dieser Rahmen war hier besser befüllt, dort kaum und wird seitdem weiter mit Funden und Erkenntnissen gefüttert. Genauso wie Annahmen wieder wegfallen, Spuren sich verlieren und manches noch unbekannt ist.

Der größte Glücksfall meiner Spurensuche war meine Hochzeitsreise entlang der nördlichen Ostküste der USA im Sommer 2016. Wenige Wochen vor der Abreise entdeckte ich bei meiner Recherche Korrespondenzen von Annot und Rudolf Jacobi mit Fam. Grosz im Archiv der Houghton Library, Harvard. Da Ausgangspunkt der Reise Boston war, bat ich noch von Berlin aus um einen Termin zur Einsicht des Schriftwechsels. Ich hatte nur drei Tage in Boston, einen der Ankunft, einen fürs Sight-Seeing – und dann einen für die Houghton Library. Die Dokumente im Archiv der Künste in Berlin hatten bisher lediglich Annots Wirken in NYC kundgetan. In Boston stellte ich beim Lesen und Abfotografieren der Briefe und Postkarten fest, dass die Jacobis einen großen Teil ihrer Zeit in den USA in Gloucester, einem Künstlerort nahe Boston verbracht hatten. Der Zufall wollte es, dass wir am nächsten Tag nach Norden zu unserem nächsten Aufenthaltsort weiterfahren sollten, und der Weg damit an Gloucester vorbeiführte. So war es möglich, trotz eng getaktetem Roadtrip, spontan einen Abstecher zu unternehmen. Straßenname und Hausnummern waren mir zu jenem Zeitpunkt leider unbekannt, aber immerhin wusste ich um die ungefähre Lage des Hauses vor Ort. Da der Tag ein Montag war, hatte das Kunstmuseum vor Ort bedauerlicherweise geschlossen, sodass ich nach Informationen zu Annot erst später, zurück in Europa, anfragen konnte – aber insgesamt handelte es sich schließlich schon um eine Menge Forschungsglück. Was nämlich möglich war: Gloucester live zu erleben. Den Ort durchwandern, dort einzukehren zum zweiten Frühstück, am Strand entlangzulaufen, die Möwen zu beobachten, einen Eindruck der Bucht zu bekommen, die sich zum Leuchtturm hin wölbt, dem Teil der Bucht, wo Annot mit ihrer Familie ein paar Jahre verbrachte, bevor es zurückging nach NYC/Long Island. Für mich war es ein sehr eindrückliches Erlebnis diesen – durch Zufall am Vortag gefunden – Ort unmittelbar kennenzulernen. Es ist einfach etwas anderes, als nur darüber zu lesen. Diese direkte Verbindung über den Ort verstärkte das Anliegen, alle zusammengetragenen Informationen über diese bewundernswerte Frau, Künstlerin und Friedensaktivistin einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Im Sommer 2016, als ich in der Bucht von Gloucester stand, war für mich undenkbar, einmal ein Gemälde Annots im eigenen Familienbesitz zu wissen. Erst recht nicht eines, das in Gloucester entstanden ist. Aber auch das sollte geschehen. Doch der Reihe nach: Mit dem Studienabschluss 2017 lag das Thema Annot erst einmal auf Eis. Auch wenn mir lange eine Doktorarbeit vorschwebte. Aber das Material brach damals an manchen Stellen weg, beispielweise fehlten farbige Abbildungen der Gemälde, und auch die mangelnde Zeit in Kombination mit Elternschaft und Coronakrise, waren Faktoren, die eine Promotion verhinderten. 2022 lud meine Mentorin und Zweitgutachterin Frau Dr. Owesle mich dann im Rahmen der Guthmann Akademie zu einem Vortrag ins Gutshaus Neu-Kladow ein. Ich machte mich in dem Zuge daran, meinen Forschungsstand aufzufrischen. Die Ankündigung des Vortrags bewog ein Sammlerehepaar aus Süddeutschland, das Arbeiten der Jacobis seit ca. 10 Jahren sammelt, sich bei mir zu melden. Ein überraschender Glücksfall. Ein reger Austausch entstand, der bis heute andauert und bei dem ich neue Gemälde Annots kennenlernen durfte, die einen wieder vollständigeren Blick auf ihr Gesamtwerk ergeben. Seit 2016 hatte sich in der Sammlungs-Museumslandschaft manches getan. So hielt auch das Museum der Verlorenen Generation von Prof. Dr. Heinz R. Böhme das Andenken an Annots Werk hoch. Und dann war da der Nachlass, der sich mittlerweile zu großen Teilen auf dem Kunstmarkt befand – dessen Interesse an Annot gewachsen war. So stellte ich fest, dass nicht nur Neues auf dem Markt war, sondern ausgerechnet um den Termin meines Vortrags hin (Zufall?) plötzlich neue Werke von Annot zum Verkauf angeboten wurden. Eins der Gemälde war „Strandszene“ aus dem Zyklus „Das Leben der Möwen“ von 1944, höchstwahrscheinlich in Gloucester entstanden. Ich entdeckte das Gemälde, kaum dass es online zum Verkauf stand. Die Erinnerung an Gloucester wurde lebendig, und dann war da auch die große Metapher dieses Bilds verknüpft mit dem persönlichen Schicksal der Familie Jacobi. Sofort hatte ich den Wunsch, auf dieses Bild aufzupassen, über seinen Verbleib informiert zu sein – was war da näherliegender, als es selbst zu erwerben. Noch am gleichen Abend gelang der Kauf und wenige Tage später befand sich dieses besondere Zeitdokument von 1944 in Familienbesitz.

Das Gemälde live zu betrachten, es sogar (selbstverständlich mit Handschuhen) anfassen zu können, war ein ganz und gar seltsames Gefühl. Vor dem Bild einer Künstlerin zu stehen, ist immer auch eine persönliche Begegnung mit der Person dahinter. Wenn sich ein Bild dann im eigenen Besitz befindet, wird aus dieser Begegnung mehr, die Wege verknüpfen sich, zumindest ein wenig.

Strandszene, 1940 – eine Bildbeschreibung

Die Leinwand der „Strandszene“ ist möglicherweise bereits mit Annot in die USA emigriert – später zurück nach Deutschland gekehrt. Sie hat also mindestens eine Atlantiküberquerung erlebt. An einer Stelle, am rechten unteren Bildrand, ist die Leinwand sorgfältig genäht. Nicht immer zeigte sie eine Strandszene. Ein älteres Bild, eine Blumenstillleben, wurde hier übermalt, das Bild dafür auf den Kopf gestellt – Annots Signatur in Weiß ist noch immer am rechten oberen Bildrand zu erkennen, schimmert durch. Genau wie die Übermalung und die Verwandlung des einen Motivs in ein neues sehr gut nachvollziehbar ist. Übermalung und Naht zeugen möglicherweise von dem Geldmangel, unter dem Annot 1944 litt. Es zeugt, so meine Hypothese, aber auch von der Dringlichkeit, sich in Zeiten des Krieges schöpferisch auszudrücken.

„Strandszene“ ist eine Arbeit die, so meine Sicht auf den gesamten Zyklus „Das Leben der Möwen“, Krieg und Freiheit thematisiert. Damit Annots Arbeit als Malerin und, wie auch einige ihrer Porträts, auf besondere Weise verbindet. Eine Stellungnahme Annots zu dieser Reihe ist mir bisher leider nicht begegnet. Die Tatsache, in Kriegszeiten Vögel als Sujet zu wählen, spricht jedoch für sich. Zwar handelt es sich nicht um Tauben, sondern um Möwen, doch gerade diese See- und Küstenvögel scheinen mir Annots Freiheitsliebe besonders zum Ausdruck zu bringen, Gedanken des Aufbruchs am Rande des Ozeans zu verkörpern. Das Meer als Sinnbild der Freiheit, der Grenzenlosigkeit, ist bei „Strandszene“ fast ausgespart, nur angedeutet durch blaue und grünliche Farbverläufe zu beiden Seiten eines großen, bräunlichen Fischernetz im Bildzentrum, das sich für die Betrachter:innen öffnet. Vor der bläulich-bräunlich-gräulichen Öffnung, die schraffiert ist, liegt eine schwarze Katzenmutter. Die Katzenmutter säugt zwei Katzenjunge, ein rot-weiß getigertes, um das sie die rechte Vorderpfote legt und ein bräunliches, das von ihrem Hinterbein geschützt wird. Neben dem Kopf der Katzenmutter besteht der Strand aus einer gelben Farbfläche mit bräunlich-beigen Punkten, die Sandkörner andeuten. Diese gelbe Fläche lenkt die Aufmerksamkeit beim Betrachten und macht gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Katzenmutter bewusst, die über ihre Jungen wacht. Der Strand ist an keiner Stelle naturalistisch, sondern besteht aus einer großen, zart rosafarbenen Fläche, die, zum ebenfalls nicht naturalistisch erkennbarem Meer, ins Bläuliche übergeht und vor Fischernetz und Katzen braun-beige, gelb-grüne und grüne Pünktchen aufweist, als Strandkörnung zu lesen, als Wiesenansatz, Bewuchs am Strand, wo das oben aus dem Bild ragende Fischernetz am Festland angebracht sein muss. Diese Andeutungen der Landschaft ergeben sich aus der Übermalung des vormaligen Blumenstillebens. So ist das Fischernetz offenbar einmal eine sich v-förmig öffnende Vase gewesen. Die Schraffierungen, beim Fischernetz als Wiedergabe der Netzstruktur genutzt, dienen der Verdeckung und dem Unkenntlichmachen der einstigen Vase. Auch der bunte Strand ist durch die Übermalung zu erklären: So sind das Gelb um den Katzenkopf wie die grünlichen Tupfen der Wiesen-Landandeutung farbliche Aufnahmen des übermalten Stilllebens, wie sich auf der linken Bildseite erkennen lässt. Auf der rechten Bildseite, und damit rechts des Fischernetzes, fliegt eine sich den Katzen nähernde Möwe, den Kopf im Flug beobachtenden nach unten geneigt, sodass es wirkt, als wolle sie nach den Katzen sehen, nach dem Rechten sehen. Außer dieser einen detailliert ausgeführten Möwe sind nur zwei weitere weißlich-schemenhafte Vögel mit einfachen Pinselstrichen angedeutet. Im rechten Bildteil sind außerdem sechs Schwimmer ausgeführt, am Rande des Netzes befestigt, die vorderen vier detailliert, die hinteren beiden als bloße Punkte angedeutet. Diese Unterscheidung von im Vordergrund ausgeführten Details und der Technik, den Hintergrund verschwommen, angedeutet zu belassen, erzeugt eine erstaunliche Bildtiefe und landschaftliche Weite des an sich schlichten Motivs. Auf der linken Seite des Fischernetzes ist eine Leiter zu erkennen, durch die möglicherweise auch die Aufhängung des Netzes zustande kommt. Außerdem ist in der Mitte der Leiter ein großer braun-rötlicher Schwimmer an einem Seil oder Tau befestigt.

Als ich den Zyklus „Das Leben der Möwen“, bzw. einen Ausschnitt davon, zum ersten Mal in Schwarz-Weiß abgedruckt im Katalog der Galerie Abercron von 1978 sah, las ich die Möwen unmittelbar als Symbole für Freiheit – auch für Unbeschwertheit, für alles Spielerische. In Kombination mit den Kriegsjahren trat jedoch besonders der Aspekt der Freiheit in den Vordergrund. Als ich „Strandszene“, mir ebenfalls durch den Katalog bekannt, mit den mittlerweile gesammelten Informationen zu Annots Leben und Wirken als zum Verkauf freigegeben im Internet entdeckte, sprach es plötzlich vielschichtig zu mir. Bereits beim Anschauen des filmischen Porträts der Künstlerin durch Katja Raganelli, bei dem Annot „Strandszene“ als einziges Bild des Möwenzyklus präsentiert, das sie nach eigener Aussage immer begleitet habe, fragte ich mich, warum. Denn das Bild ist auf den ersten Blick unspektakulär. Da ist dieses Fischernetz, dazu im Vordergrund die Katzen vor der Öffnung des Netzes, die eine Ausschau haltende Möwe, eher klobig wirkende Schwimmer, dazu diese diffusen ineinander übergehenden Farbflächen, die jegliche Landschaft nur andeuten. Nichts ist wirklich virtuos ausgeführt, weshalb der Blick beim Betrachten unwillkürlich immer wieder zur feinen Schraffur des Netzes, zu diesen ordentlich aufgekratzten Farbe zurückkehrt, die beim flüchtigen Beschauen wirken können, als sei die Schattierung des Netzes nicht wie gewünscht gelungen und so das Problem gelöst worden. Zu diesem Schluss kann man jedoch nur gelangen, wenn man die Übermalung des über Kopf gedrehten Blumenstilllebens noch nicht bemerkt hat. Ist dies geschehen, wird die Schraffur im Kontext der Übermalung zur pfiffigen Idee, zum Kunstgriff. Auch das auf den ersten Blick unspektakulär anmutende Motiv wird im Kontext von Zeit und Familienhistorie zu etwas völlig anderem. Hat man Kenntnis davon, geschieht praktisch eine Übermalung des Blicks der Betrachtenden beim Betrachten des übermalten Bildes. Das einstige Blumenstillleben war in seiner Aussage unbedeutend im Gegensatz zur „Strandszene“. Die „Strandszene“ ist ein persönliches Bild, das Bild einer Mutter, das Bild einer Emigrantin, einer Geflüchteten – weshalb es, meiner Meinung nach, Annot auch immer begleitet hat. Im Jahr 1944 könnte das braune Fischernetz für eine Gefahr stehen, der man ins Netz gegangen ist oder für ein rettendes Netz, das aufgefangen hat. Auch beide Deutungen können nebeneinander gelten. Schaut man vom Strand, der sich in den USA befindet, hinaus aufs Meer, blickt man der sich nähernden Möwe entgegen, die auch in einer Doppelrolle lesbar ist: Als nach den Katzen sehender, sich kümmernder Freiheitsverkörperung und als Gefahr, ähnlich einem Kampflugzeug, mit böser Absicht und insbesondere Bedrohung für die Katzenkinder. Die sechs runden Schwimmer auf Möwenseite mögen beliebig aussehen, die vorderen drei befinden sich an einem Seil, der vierte detaillierte wirkt wie dazugefügt, ebenso die schemenhaften hinteren beiden. Schaut man mit Annots Augen vom Strand aufs Meer Richtung Europa, könnte man sie als Weg lesen. Ebenso lässt sich die Leiter, die das Fischernetz hält, als Weg lesen, als Leiter nach oben, evt. als Karriereleiter, als Lebenspfad und der große Schwimmer an der Leiter, der im Verhältnis zu Katzen und Netzt fast in der Lage scheint, einen Menschen über Wasser zu halten, ließe sich dergestalt deuten. Das mag zu weit gehen, doch weiß man um die wohldurchdachte Bildkonzeption Annots, ist reine Willkür der Gegenstände, selbst wenn ein echtes Motiv Inspiration gewesen sein sollte, unwahrscheinlich. Die Katzenmutter hat es mit den Katzenjungen an Land geschafft – wie die Farbgebung, das angedeutete Grün des Landes, aussagen. Bei einem Wurf kommen in der Regel zwei bis fünf Katzenjunge zur Welt. Dass Annot zwei Katzenkinder gewählt hat, macht eine Andeutung des eigenen Schicksals wahrscheinlich – Annot hat ihre beiden Kinder Stella und Frank gerettet, über einen Ozean hinweg, beschützt sie vor Gefahr, vor Kriegsgefahr und NS-Regime. Sie versteckt das ältere Kätzchen geradezu mit der Pfote, das als Stella lesbar wäre, die nach Annots eigener Aussage ein Euthanasieopfer der Nazis geworden wäre. Durch die Übermalung ist das Bild insgesamt eher dunkel, was die bedrohliche Kriegsatmosphäre transportiert bzw. transportieren könnte. Die Übermalungen, die im linken Bildteil ein diffuses grün-weißlich-gelblich-rosa Gemisch ergeben, erinnern fast an ein wenig an die stimmungsvollen Landschaftsbilder Turners. Nichts Konkretes ist zu sehen, nur die Bildaufteilung ist klar: Links ist das Land, das sich im Vordergrund auch etwas detailliert als Wiese oder ähnliches, zeigt und rechts der blau-rosa Seeteil, Domäne der Möwe(n). Die vielleicht doch mehr einen Willkommensgruß aussendet, denn einen oberservierenden Blick, die als Willkommensgruß der Unabhängigkeit gelesen werden könnte.

Wie man das Bild auch dreht und wendet – und insbesondere, wenn man es dreht und wendet – wird klar: Dies ist nicht irgendein Bild, das ist keine beliebige, schlicht hübsch anzusehende „Strandszene“. Hier ist nicht nur ein altes Bild überarbeitet worden, eine Leinwand liebevoll geflickt worden, sondern etwas dargestellt, das betrifft und für die Malerin von großer Bedeutung ist. Wäre das Motiv ein nebensächliches, eine einfache Alltagsszene, wäre nicht ein altes Bild dermaßen konzentriert und durchgeplant überarbeitet worden. Dieses Bild heißt im Katalog von Abercron 1978 noch „Möwe über dem Fischernetz“ und ist mit „1927“ datiert – das Galerie-Etikett allerdings nennt es „Strandszene“ und datiert es auf 1944. Die Datierung „1927“ verweist möglicherweise auf das übermalte Blumenstillleben – der Titel „Möwe über dem Fischernetz“ lässt die Deutung der Möwe als Freiheitssymbol noch wahrscheinlich werden. Die neue Betitelung „Strandszene“, unter der es seit der Ausstellung 1978 gehandelt wird – offenbar eine spontane Umbennenung, wie der abweichende Titel im Katalog vermuten lässt – legt das Thema der Emigration nahe. Wäre dies nicht der Fall, trüge das Gemälde wahrscheinlich eher einen Titel wie „Katzen am Strand“ (falls es um deren Beobachtung und Abbildung sich drehte) oder „Am Hafen“ etc. Da ist aber kein Hafen, kein Boot, nur ein Fischernetz. Weil eben nicht von Booten erzählt werden soll, weil es um ein – so oder so – gemeintes Netz geht und um einen Strand, eine Landung, ein Ufer. Kein Hafen ist gefunden, trotz Ufer. Da ist mehr ein Blick zurück, aus (sicherer) Distanz ein Blick auf eine Situation ebenso. Die diffuse Lichtstimmung unterstreicht diese Melancholie des Blicks, die dem Motiv, eingeschrieben ist, das Gemälde mit ausmacht. Anders als bei Annots Frauenporträts oder den meisten ihrer Stillleben, scheint die Malerin hier ein persönliches Stück Schicksal zum Ausdruck gebracht zu haben. „Strandszene“ könnte man als einen gemalten Tagebucheintrag aus dem Jahre 1944 bezeichnen, eine Bestandsaufnahme und einen Rückblick auf die Emigration so far. Wer um Annots Geschichte weiß, kann sich diesem Bild jedenfalls kaum entziehen, es übt einen eigenen Zauber aus, erzählt von einer Rettung, einer Mutter, die ihre Kinder in Sicherheit bringt und einer Wehmut, die in der Flucht liegt und bleibt, beim Blick vom Strand zurück über den Atlantik.


[1] Hannelore Paflik, Katharina Sykora: Verfemte Künstlerinnen im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (FKW- Frauen Kunst Wissenschaft), Ausgabe: Heft 2/3 vom April/Mai 1988, S. 16-21.

[2] Ebd.

[3] Annelie Lütgens, Annot, in: Das Verborgene Museum, Dokumentation der Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen, Katalogredaktion:Gisela Breitling, Renate Flagmeier, Johanna Wördemann, NGBK, Berlin, 1987, S.239

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] AdK, Berlin, Annot-Jacobi-Archiv, Nr. 44.

[7] 1976 drehte Katja Raganelli die Dokumentation gemeinsam mit Konrad Winkler (Produktionsfirma: Diorama Film) AdK, Berlin, Annot-Jacobi-Archiv, Nr. 41. „Informationen zum und Reaktionen auf den Film“.